2. Mai 2011 - Die Deutsche Aktuarvereinigung e.V. (DAV) sieht das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu Unisex-Tarifen sowohl kritisch als auch pragmatisch und mit weitreichenden Konsequenzen bei Personenversicherungen. Altersvorsorgeprodukte könnten teurer werden.
„Für den Berufsstand der Aktuare ist das Urteil des EuGH vom 1. März 2011 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen eine fachliche und berufliche Herausforderung", nimmt deren Berufsverband DAV Deutsche Aktuarvereinigung (www.aktuar.de) Stellung zu den geforderten Unisex-Tarifen ("Zwang zu Unisex-Tarifen schockt die Branche"). Dem wolle man sich selbstverständlich stellen und die Forderungen des Urteils pragmatisch umsetzen. „Das Kriterium Geschlecht ist für die Bewertung von Versicherungs- und Versorgungsverträgen ein wichtiger objektiv und risikospezifisch differenzierender Faktor", so die DAV auf ihrer Jahrespressekonferenz in Berlin.
Es sei nicht Aufgabe des Aktuars zu beurteilen, ob mit der Differenzierung nach dem Geschlecht - also der Anwendung unterschiedlicher Faktoren für Mann und Frau - eine „Übergenauigkeit" in der Bewertung erzielt wird. Oder ob bei einem Verzicht auf die Differenzierung die Nachteile von der einen oder anderen Vertragsseite als zu groß angesehen werden.
Gewinner und Verlierer
Unisex-Faktoren und -Tafeln sind laut DAV verfügbar oder können hergestellt werden und geben Auskunft über derartige Vor- und Nachteile. „Doch sehen die Aktuare derzeit keine Möglichkeiten, Statistiken für möglicherweise gegebene anderweitige Risikomerkmale bei Männern und Frauen zu entwickeln, die deren Unterschiede in der Sterblichkeit und der Krankheits-, der Pflegefall- oder der Berufsunfähigkeitswahrscheinlichkeit mehr oder weniger und auf Dauer kompensieren könnten." Daher bedeute die Anwendung geschlechtsunabhängiger Faktoren den Verzicht auf Genauigkeit in der Bewertung von Versicherungs- und Versorgungsverträgen. „Gleiche Leistungen für gleiche Beiträge sind dann in der Regel nur zum Vor- oder Nachteil der einen oder anderen Seite zu haben", sagte DAV-Geschäftsführer Michael Steinmetz (Foto).
DAV: Geprüfte Experten Dementsprechend besonders herausgehoben und seit 1994 gesetzlich im Versicherungs-Aufsichts-Gesetz (VAG) verankert ist die Funktion des Verantwortlichen Aktuars in der Personenversicherung. Dieser muss von jedem auf diesem Gebiet tätigen Unternehmen benannt werden. Er hat besondere Rechte und Pflichten, die der Finanzierbarkeit der Verträge, der Sicherung des Unternehmens und damit letztlich dem Kundenschutz dienen. |
Die dritte Säule der Altersvorsorge könnte insgesamt schwächer werden. „Und dies angesichts ohnehin zu befürchtender Altersarmut und einer mittelfristig unumkehrbaren demografischen Entwicklung", so der DAV-Geschäftsführer.
Wie wird sich das EuGH-Urteil auf private Vertragsverhältnisse und einzelne Versicherungssparten auswirken? - Dazu die aktuellen Prognosen der DAV.
1. Private Rentenvereinbarungen
Sterbetafeln, die nach dem Geschlecht differenzieren, sind hier weit verbreitet. Das betrifft zum Beispiel Kaufpreis-Renten, Nutzungs- und Nießbrauchrechte oder testamentarische Verfügungen.
Dabei wird der Wert eines bestimmten Erwerbs- oder Veräußerungsgegenstandes - beispielsweise einer Immobilie - in eine an das Erleben des Vertragspartners gebundene lebenslängliche oder auch zeitlich befristete Rentenzahlung umgewandelt.
Welche Konsequenzen das im Bereich von Rentenvereinbarungen haben kann - „auch wenn das EuGH-Urteil nicht unmittelbar auf derartige Vertrags-Typen anzuwenden sein mag" - rechnen die Aktuare an folgendem Beispiel vor:
Differenziert nach Geschlecht ergibt sich bei einem Kaufpreis von 100.000 Euro für einen Mann eine monatliche Rente von 702,64 Euro, bei einer Frau wären es wegen der längeren Lebenserwartung 615,89 Euro.
Wird die Rente nach der durchschnittlichen Lebenserwartung beider Geschlechter berechnet, hat der Mann deutlich weniger und die Frau wesentlich mehr zu erwarten - beide nämlich dann 659,27 Euro monatlich.
„Werden sich Männer noch auf ein solches Geschäft einlassen?", fragen die Aktuare.
2. Lebensversicherungsverträge
Hier erwarten die Versicherungsmathematiker bei bestimmten Produkten „gravierende Auswirkungen".
Das EuGH-Urteil erfordert die Ableitung neuer Risikomerkmale und damit die Neukalkulation der Tarife für das Neugeschäft. „Vermutlich müssen entsprechende Sicherheitszuschläge berücksichtigt werden", so Michael Steinmetz.
Rentenversicherungen: Die Beiträge für private Rentenversicherungen werden sich spürbar verändern - Männer werden mehr zahlen, Frauen weniger als bisher.
Daher sei zu vermuten, dass zukünftig weniger Männer eine Rentenversicherung abschließen, die nun im Vergleich zu Sparprodukten ohne biometrische Komponenten „weniger attraktiv erscheinen".
Insgesamt wird sich nach Ansicht der Aktuare die Verwendung von Unisex-Tafeln bei Rentenversicherungen der so genannten 3. Schicht folglich anders auswirken als bei Riester-Rentenversicherungen. Denn bei diesen würden ungünstige Beitragsverschiebungen durch die staatliche Förderung überkompensiert.
Risikolebensversicherungen: Auch hier wird es durchaus zu durchaus größeren Beitragsveränderungen kommen - mit Preissenkungen für Männer und Preiserhöhungen für Frauen. Der Preis dürfte aber im Verhältnis zur Versicherungssumme eher gering bleiben. Die Aktuare gehen deshalb davon aus, dass sich der Versorgungsgrad der Bevölkerung mit diesem wichtigen Produkt nicht ändern wird.
Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherung: Hauptdifferenzierungsmerkmal ist hier der versicherte Beruf. Die Kalkulation mit Unisex-Tafeln wird daher nur zu eher mäßigen Preisveränderungen führen, so die Einschätzung der Professionals.
3. Private Kranken- und Pflegeversicherung
Private Krankenversicherung: Hier werden die Rechnungsgrundlagen Kopfschaden, Sterblichkeit und Storno geschlechtsabhängig ermittelt und zur Prämienkalkulation herangezogen.
Dabei ist der Einfluss des Kopfschadens deutlich stärker als der Einfluss der Sterblichkeit. Die Kopfschadenprofile der Männer sind wesentlich steiler als die der Frauen: In jungen Jahren sind die Kopfschäden der Männer niedriger, im Alter höher als bei Frauen.
Deshalb sind in einem typischen Kompakttarif derzeit die Neuzugangsbeiträge für Männer bis etwa Mitte 50 niedriger als für Frauen, danach sind sie für Frauen günstiger.
Dieser Effekt gilt den Angaben zufolge mit einigen Lebensjahren Verzögerung auch für die Bestandsbeiträge. Die direkte Umsetzung des EuGH-Urteils würde damit für die Hauptzugangsalter in der PKV die Männerbeiträge verteuern und die Frauenbeiträge ermäßigen.
Jedoch spielt zudem ein ganzes Bündel von gesetzlichen Regelungen mit hinein, die es zu berücksichtigen gilt - insbesondere das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.
Von daher könnten sich andere Auswirkungen ergeben - „Beitragserhöhungen im Bestand bei jungen Männern von über zehn Prozent, vor allem aber bei älteren Frauen in teilweise noch größerem Umfang".
Was wäre wenn ...
Insofern fragen die Aktuare: Wie wäre es zu beurteilen, wenn der Gesetzgeber ohne zwingende Anweisung des EuGH mit Berufung auf den Gleichbehandlungs-Grundsatz einer 80-jährigen Frau, die den größten Teil ihres Lebens den teureren Frauenbeitrag zahlen musste und erst seit wenigen Jahren günstiger gestellt ist als ein gleichaltriger Mann, jetzt eine 15prozentige oder noch höhere Beitragserhöhung verordnet?
Wie wäre es zu sehen, dass ein junger Mann, der sich vor fünf Jahren für einen PKV-Schutz entschieden hat, jetzt neben den allgemeinen Beitragssteigerungen aufgrund der Kostenentwicklung auch noch eine vom Gesetzgeber verordnete Unisex-Erhöhung um 10 Prozent zu zahlen hat - und zwar für viele Jahre? Und das wegen der allgemeinen Pflicht zur Versicherung ohne die Möglichkeit, den Versicherungsschutz ganz zu kündigen.
Private Pflegeversicherung: Kein Änderungsbedarf. Denn aufgrund der gesetzlichen Vorgaben sind die Zahlbeiträge von Anfang an geschlechtsunabhängig.
4. Betriebliche Altersversorgung
Auswirkungen auf die Preise: Die geschlechtsunabhängige Kalkulation ergibt bei Entgeltumwandlungen, soweit die Leistungen auf Alters- und Invaliden-Renten beschränkt sind, Preissteigerungen für Männer und damit eine geringere Attraktivität. Bei einer Änderung in der Zusammensetzung der Bestände müssen ggf. die Prämien angepasst werden. Hier werde zu prüfen sein, ob dafür ein zusätzlicher Sicherheitszuschlag erforderlich ist.
Auswirkungen auf Unternehmen: Beim Anbieter entstehen aufgrund der zusätzlichen Untersuchungen und der zusätzlichen Risiken grundsätzlich zusätzliche Aufwendungen.
Auswirkungen auf den Markt: Betriebliche Altersversorgung wird insgesamt teurer werden. Bei arbeitgeberfinanzierten Zusagen werden die Arbeitgeber prüfen, ob die zusätzlichen Kosten getragen werden können oder ob an anderer Stelle Einsparungen möglich sind.
Bei arbeitnehmerfinanzierten Leistungen entsteht durch Unisex-Tarife zusätzlicher Aufwand, der vom Beitragszahler oder Leistungsempfänger zu tragen ist - in beiden Fällen also vom Arbeitnehmer.
5. Schaden- und Unfallversicherung
Nur in der Unfall- und Kraftfahrtversicherung gibt es Produkte mit personenbezogenen Risikomerkmalen. Dabei werden Frauen in der Unfallversicherung heute pauschal der geringsten Gefahrengruppe zugeordnet.
Bei einer neuen Zuordnung nach den geschlechtsunabhängigen Merkmalen wird sich für die Geschlechter keine spürbare Auswirkung ergeben. Das gilt der DAV zufolge ebenso für den Spezialfall der Unfallversicherung mit Beitragsrückerstattung, da die Biometrie hier insgesamt einen geringen Einfluss hat und damit die Geschlechterspezifizierung entsprechend noch geringer wirken wird.
In der Kraftfahrtversicherung wird das Geschlecht im Wesentlichen nur beim überragenden Merkmal Alter und Fahrerfahrung als weitere Differenzierung herangezogen. Derzeit werden dabei vor allem junge Frauen bis zum Alter von 23 Jahren bevorzugt.
Extremer Wettbewerb drückt den Preis
Die Marktpreise für die Gruppe der Fahrer unter 23 Jahren werden trotz extremen Wettbewerbsdrucks wohl im Durchschnitt leicht steigen, da die Mischung beider Geschlechter mit Unsicherheiten behaftet ist und dies im Preis berücksichtigt werden muss. (lp / www.bocquel-news.de)
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