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Konzepte und Kriterien

Zwang zu Unisex-Tarifen schockt die Branche

7. März 2011 - Versicherer müssen künftig Unisex-Tarife anbieten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied, dass nach dem Geschlecht differenzierende Versicherungs-Tarife spätestens 2013 Unzulässig sind. Die Branche tobt, doch die Finanzexpertinnen sind froh.

UNI-SEX Von sprachlosem Erstaunen bis zum tiefen Bedauern reicht die Bandbreite, die der EuGH Europäische Gerichtshof (http://curia.europa.eu) mit seinem Urteil zu geschlechtsneutralen Versicherungsbeiträgen auslöst. Doch es gibt auch Fürsprache für den Urteilspruch, den die EuGH-Richter in Luxemburg vergangenen Woche fällten. In der „Rechtssache C-236/09", stellte der EuGH klar, dass unterschiedliche Beiträge der Versicherer für Männer und Frauen diskriminierend und damit unzulässig seien.

Umsetzung in nationales Recht ist Pflicht
Bis zum 21. Dezember 2012 muss das EuGH-Urteil in nationales Recht umgesetzt werden. Sofern der Gesetzgeber an der Richtlinie nichts mehr ändert, müssen ab diesem Zeitpunkt Versicherungs-Verträge geschlechtsunabhängig (Unisex) angeboten werden. Treffen wird das die Sparten Krankenversicherung, Lebens- und Renten-Versicherung sowie die Auto-Versicherung, in denen zum Teil wenig überzeugende Unterschiede bei der Prämiengestaltung für Frauen und Männer gemacht werden. Übrigens sind Altverträge von den Richterspruch nicht betroffen. In der Branche wird nun mit steigenden Beiträgen durch das Urteil gerechnet. Eine Anhebung der Prämien sei unausweichbar.

Lars GatschkeVerbraucherschützer sehen keinen Anlass für Verteuerung
Nicht alle Institutionen sehen in dem EuGH-Urteil Probleme. Die Verbraucherschützer sehen beispielsweise keinen Anlass für steigende Prämien. „Wir bewerten das Urteil positiv", sagte Lars Gatschke (Foto) von der Verbraucherzentrale Bundesverband (www.vzbv.de) gegenüber der Financial Times Deutschland (www.ftd.de). Auch während der 11. Handelsblatt Jahrestagung „Assekuranz im Aufbruch" (www.assekuranz-im-aufbruch.de), die vergangene Woche in München zu Ende ging, hielt Gatschke angesichts mit zahlreichen Top-Managern aus der Versicherungswirtschaft mit seiner Meinung pro EuGH-Urteil nicht hinterm Berg. Er sagte, die Versicherer hätten zu lange an den geschlechtsspezifischen Tarifen festgehalten zu haben. „Jetzt stehen sie vor einem Scherbenhaufen". Die Assekuranz habe es schlicht weg versäumt, ausreichend lange Zeitreihen zur Berechnung der Risiken ohne Zuordnung des Geschlechts zu erstellen.

Dr. Mechthild Upgang Finanzexpertinnen begrüßen Urteil
Als der Europäische Gerichtshof sein Urteil zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei den Versicherungsprämien bekannt gab, war der Aufschrei in der Branche riesengroß und einhellig. Vor Prämien-Explosionen, Markt-Verzerrungen und Kunden-Schädigungen wird gewarnt. Der Bundesverband unabhängiger Finanzdienstleisterinnen (BuF) e.V. (www.finanzexpertinnen.de), kann sich dieser Einschätzung nicht anschließen. Schließlich verweist der Verband bereits seit vielen Jahren auf gravierende Ungerechtigkeiten bei der Kalkulation privater Renten-Versicherungen. „Denn hier sind die Unterschiede so richtig spürbar", sagt Dr. Mechthild Upgang (Foto) vom BuF-Vorstand. Zwar würden Frauen bei der günstigeren Auto-Versicherung oder bei geschlechtsspezifisch kalkulierten Preisen von Risiko-Lebensversicherung profitieren, doch sei der Preisunterschied zu Männer-Tarifen in diesen Sparten geradezu lächerlich gering im Vergleich zur Renten-Versicherung.

Dr. Upgang nennt ein Beispiel: Heutzutage zahlt eine 40-jährige Frau, die 25 Jahre für eine lebenslange Gesamtrente von etwa 1.000 Euro spart, in der Zeit bis zu ihrem Rentenbeginn etwa 10.000 Euro mehr Prämien als der männliche Versicherte mit gleichen Vorgaben. Die Zins- und Zinseszinsen sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.


Frauen leben länger
Als Begründung für diese Männer bevorzugende Prämien-Kalkulation habe sich der Branche die längere Lebenserwartung der Frauen angeboten, betont Dr. Upgang. Doch genau dies sei grundgesetzwidrig: Denn kein Mensch dürfe wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der er unabänderlich allein durch die Geburt angehört, höher belastet werden als andere. Das müsse auch gelten, wenn es statistisch nachweisbare Unterschiede gibt.


Scheinheiliger Aufschrei
„Doch scheinheilig ist der Aufschrei der Branche auch deshalb, weil allgemein bekannt ist, dass die Lebenserwartung durch zahlreiche weitere vierzig Bedingungen beeinflusst wird", sagt die Finanzexpertin und nennt in diesem Zusammenhang den Bildungsstand, das soziale Umfeld, die Einkommenshöhe, den Lebensstil, die Ernährung, durch Zigarettenkonsum und Vieles mehr. Einfacher sei es da jedoch einen augenscheinlichen Aspekt herauszugreifen, die statistisch nachweisbare längere Lebenserwartung der Frauen.

„Damit ist jetzt Schluss. Wir dürfen gespannt sein, auf welche Weise die Auflage des Europäischen Gerichts umgesetzt wird. Doch freuen können sich Frauen, die für die Rente sparen müssen, auf jeden Fall. Und mit ihnen ihre Interessenvertreterinnen in der Versicherungs-Branche, die engagierten, unabhängigen Finanzberaterinnen", sagt Dr. Mechthild Upgang.


Die Qualifikation ist wichtig
Der Bundesverband unabhängiger Finanzdienstleisterinnen - BuF e. V. - ist ein Zusammenschluss von Expertinnen aus der Versicherungs- und Finanzdienstleistungs-Branche, die ihre Mandanten kompetent und unabhängig von Banken, Versicherungs-, Investment- und Anlagegesellschaften beraten. Der BuF legt höchsten Wert auf die Qualifikation, Professionalität, Erfahrung und Unabhängigkeit seiner Mitglieder. Auf Tagungen und Kongressen werden diese Qualitätsmerkmale kontinuierlich weiter entwickelt.

Bei der Riester-Rente hat es doch auch geklappt
Die Verbraucherschützer verweisen dabei unter anderem auch auf die Riester-Rente, für die seit 2006 Unisex-Tarife vorgeschrieben sind. Man rekapitulierte, dass bei ihrer Einführung nur zu geringfügigen Prämiensteigerungen (vor allem für die Männer) gekommen sei. Die Branche hatte zwar befürchtet, dass es zu einem regelrechten Einbruch der Verkaufszahlen bei Riester-Renten für Männer kommen werde. Das hatte sich dann nicht bewahrheitet.

Im übrigen müsse auch darauf verwiesen werden, dass etliche Pensionskassen hierzulande schon seit Jahren mit gleichen Beiträgen für Männer und Frauen kalkulieren.

Gender-Richtlinie in Fragen gestellt?
Die meisten Versicherer sind bestürzt, heißt es in Branchenkreisen. Mit dem EuGH-Urteil werde eine versicherungsspezifische Regelung der so genannten Gender-Richtlinie (Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates) in Frage gestellt, die erst 2004 nach intensiver Diskussion von den EU-Mitgliedstaaten einstimmig verabschiedet und auch vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen worden war. Diese Vorschrift ermächtigte die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die nach Männer und Frauen getrennte Kalkulation von Versicherungs-Tarifen weiterhin zuzulassen, wenn nachgewiesen werden kann, dass das Geschlecht ein bestimmender Faktor in der Risikobewertung ist.

Der Gesetzgeber in Deutschland hat diese Möglichkeit umgesetzt und eine entsprechende Vorschrift im Allgemeinen Gleichbehandlungs-Gesetz (AGG) geschaffen. So können derzeit Frauen in Deutschland ihr Auto günstiger versichern als Männer, da ihr Unfallrisiko geringer ausfällt. Deutlich niedrigere Prämien zahlen wegen der geringeren Sterberisiken auch Frauen, die zu Gunsten von Partner oder Kinder eine Todesfallversicherung abgeschlossen haben.

Allgemeines Gleichbehandlungs-Gesetz
Umgangssprachlich wird das „AGG", das allgemeine Gleichbehandlungs-Gesetz, auch als Antidiskriminierungs-Gesetz bezeichnet. Es handelt sich um eine deutsches Bundesgesetz, das ungerechtfertigte Benachteiligungen aus Gründen der "Rasse", der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion, der Weltanschauung, einer Bedingung des Alters oder der sexuellen Identität verhindern und beseitigen soll. Zur Verwirklichung dieses Ziels erhalten die durch das Gesetz geschützten Personen Rechtsansprüche gegen Arbeitgeber und Private, wenn diese ihnen gegenüber gegen die gesetzlichen Diskriminierungsverbote verstoßen.

Umgekehrt wird die kürzere Lebenserwartung von Männern und damit ihre durchschnittlich kürzere Rentenbezugszeit bei Rentenversicherungen dadurch ausgeglichen, dass bei gleicher Prämie eine höhere monatliche Rente gewährt wird. Versicherungstarife werden so kalkuliert, dass die jeweils unterschiedlichen Risiken durch Prämienunterschiede kompensiert werden. Mit der EuGH-Entscheidung werde nun ein zentrales Prinzip der privaten Versicherungswirtschaft, nämlich das Prinzip der Äquivalenz von Beitrag und Leistung, in Frage gestellt.

Dr. Markus Rieß Dr. Markus Rieß (Foto), Vorsitzender der Vorstände der Allianz Deutschland AG (www.allianzdeutschland.de) erfuhr vom EuGH-Richterspruch zeitgleich als er ein Referat bei der Handelsblatt Jahrestagung hielt. „Ich persönliche bedauere die Entscheidung des EuGH sehr. Wir müssen noch abwarten und die Details kennen, bevor ich hier eine Stellungnahme abgeben kann", sagte er, machte aber auch keinen Hehl daraus, dass für ihn das Urteil in die falsche Richtung laufe. Es sei schlechtweg falsch, wenn man Gleiches mit Ungleichem vergleichen wolle. Genau das geschehe nun aber mit dem EuGH-Spruch. „Sicher wird diese Entscheidung für die Versicherungsbranche teuer. Es ist unstreitig, dass es teurer wird", fügte er hinzu.

Möglichst günstig und risikogerecht
Gegenüber der Zeitung "Euro am Sonntag" (www.finanzen.net) äußerte sich Dr. Rieß dann noch etwas ausführlicher: "Geschlechtsspezifische Statistiken sind und bleiben ein unverzichtbares Mittel, um den gewünschten Versicherungsschutz für alle Kunden möglichst günstig und risikogerecht anzubieten." Unterschiedliche Beiträge für Männer und Frauen hätten nichts mit Diskriminierung und Willkür zu tun. "Dies wird schon daran deutlich, dass je nach versichertem Risiko ein anderes Geschlecht begünstigt oder benachteiligt wird."

Auch von der DAV Deutschen Aktuarvereinigung (www.aktuar.de) kam gleich nach der Urteilsverkündung eine Stellungnahme. Man bedauere die Entscheidung des EuGH, in Zukunft nur noch Unisex-Tarife für Frauen und Männer zuzulassen. Die DAV werde nunmehr das Urteil und seine Begründung prüfen. Dabei werde sich zeigen, ob es bei der jetzt anstehenden Umsetzung des Urteils in nationales Recht möglich ist, eine Lösung zu finden, die dem Richterspruch entspricht und trotzdem eine risikogerechte Tarifierung erlaubt.

Michael Steinmetz Bereits im Oktober 2010 hatte Michael Steinmetz (Foto), Geschäftsführer Deutsche Aktuarvereinigung e.V. gegenüber Journalisten darauf hingewiesen, dass die erzwungenen Unisex-Tarife viele Milliarden Euro kosten würden: „Die Folgen einer gesetzlich erzwungenen Gleichbehandlung zwischen Frauen und Männern trotz statistisch nachgewiesener Unterschiede bedeuten nicht nur einen milliardenschweren Kostenanstieg, sondern auch unendlich viele Arbeitsstunden, weil die Versicherer viele Tarife neu ausrichten müssten."

Einheits-Tarife gab es schon vor dreißig Jahren
Was Vielen kaum noch in Erinnerung ist, dass es vor fünfundzwanzig bis dreißig Jahren bei der Kapitallebensversicherung, die einen Risikoschutz gegen Todesfälle enthält, Einheits-Tarife für Männer und Frauen gab, die auf der Basis der Sterblichkeit der Männer berechnet wurden. Damals bezahlten Frauen (denen von je her eine längere Lebensdauer beschieden ist) offensichtlich mehr als nötig, wenn man den heutigen Maßstab der Assekuranz anlegt. (eb-db / www.bocquel-news.de)

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