28. Juli 2021 - Die vierte Pandemie-Welle wird voraussichtlich im August / September wieder nach Deutschland herüberschwappen. Die Versicherer kamen damit bisher ganz gut klar; aber weite Kreise im Vertrieb sind noch nicht vollends für ihr Geschäft im Up and Down eines Lockdowns oder weiteren Lockerungen – wohl aus finanzieller Sicht - gerüstet.
Weltweit äußerten 250 Führungskräfte aus der Versicherungsbranche und mehr als 10.000 Endkunden ihre Meinung, wie sie die aktuelle Lage aus versicherungsspezifischer Sicht einschätzen. Veröffentlicht wurden ihre Aussagen im aktuellen ‚World Insurance Report 2021‘ von Capgemini (www.capgemini.com/de-de/invent) und efma (www.efma.com), die seit 2007 jährlich diesbezüglich aktuelle versicherungsspezifische Themenfelder hinterfragen. (siehe auch bocquel-news 16. September 2020 InsurTechs bringen Versicherern mehr Kunden – sowie 7. Oktober 2019 Um Längen voraus: InsurTechs vor Versicherern).
Martin Baumann, Director für die Versicherungsbranche bei Capgemini Invent, besprach in einem Interview mit den bocquel-news Details zu den Ergebnissen des ‚World Insurance Report 2021‘ von Capgemini. In seiner Funktion berät Martin Baumann nationale und internationale Versicherungsunternehmen in der digitalen Transformation.
Der World Insurance Report 2021 fokussiert sich auf den Vertrieb. Steht er in diesem Jahr vor besonderen Herausforderungen?
Martin Baumann: Ja, gerade im Vertrieb waren die letzten Monate sehr herausfordernd. Versicherungsvermittler sind stark von den Corona-Auswirkungen betroffen, und die Kunden dürften ihr Recherche- und Kaufverhalten nicht nur vorübergehend verändert haben. Spannend ist also zu hinterfragen, welche Erwartungshaltung die Kunden nun stellen, welche Rolle verschiedene Vertriebskanäle für sie spielen und wie sich Vertriebspartner sowie Versicherer entsprechend aufstellen können. Genau das haben wir in unserem Report untersucht.
Und damit sind wir direkt beim Thema. Herr Baumann, digitale Kanäle gewinnen stetig an Relevanz – wie wirkt sich dies auf die klassischen Vertriebskanäle der Assekuranz aus?
Martin Baumann: Es stimmt, wir beobachten, dass die Nutzung digitaler Kanäle stark zunimmt; trotzdem sind sie weit davon entfernt, physische Kanäle abzulösen. Im Gegenteil, die Ergebnisse aus dem ‚World Insurance Report 2021‘ haben gezeigt, wie wichtig es ist, die physischen und digitalen Kontaktpunkte im Versicherungsvertrieb stärker zu vernetzen. Kunden leben längst in dieser hybriden, „phygitalen“ Welt.
Auch für Versicherer gilt es daher, ihnen auf der gesamten Customer Journey –von der initialen Recherche bis hin zum Abschluss der Versicherungspolice – maximalen Mehrwert durch die Vernetzung digitaler und physischer Kanäle zu bieten. Denn nur so erhöhen Agenturen, Makler und Versicherer ihre Chancen, digital gewonnene Interessenten und Kunden langfristig zu binden und den Customer Lifetime Value zu steigern.
Wie hat die aktuelle Pandemie diese Entwicklung beeinflusst?
Martin Baumann: Die Pandemie und die damit verbundenen Konsequenzen für die Menschen – wie Kontaktbeschränkungen oder das Arbeiten im Home-Office – haben die Akzeptanz digitaler Kanäle deutlich erhöht. Der ein oder andere hatte ja erwartet, dass die Pandemie einen Push der digitalen Vertriebswege auf Kosten der Vermittler auslösen würde; das lässt sich aus den Befragungen der Kunden, Vermittler und Versicherer allerdings gar nicht herauslesen.
Besteht für Agenturen und Makler dennoch Handlungsbedarf?
Martin Baumann: Wenn es um den Abschluss von Versicherungsprodukten geht, empfinden Kunden die Agenturen und Makler noch immer als die vertrauenswürdigste Quelle. Dies gilt sowohl im Privat- als auch im Gewerbekundensegment.
Differenzierter gilt es die Recherchephase zu betrachten. Hier sind im Firmenkundengeschäft die Vermittler stärker gefragt, im Privatkundengeschäft hingegen werden die digitalen Kanäle im gleichen Maße genutzt. Am Ende des Tages geht es allerdings nicht um voneinander isolierte Vertriebskanäle, sondern um die Möglichkeit, sie nahtlos zu kombinieren. Der Kunde unterscheidet nicht nach Absatzkanälen; er nutzt in verschiedenen Situationen den für ihn jeweils bequemsten Kanal – nach Lust, Laune und Verfügbarkeit oder wie es ihm sinnvoll erscheint. Agenturen und Makler brauchen daher eine stärkere Anbindung an digitale Kommunikations- und Absatzkanäle.
Letztlich müssten die Versicherer hier also aktiv werden?
Martin Baumann: Genau! Sie müssen die nötige digitale Infrastruktur und Tools zur Verfügung stellen, um Informationen und Erkenntnisse aus den verschiedenen Kanälen zusammenzuführen und dem Kunden so bei jedem Touchpoint ein nahtlos ‚phygitales‘ Kundenerlebnis zu bieten. Hierunter fallen insbesondere Digital Collaboration Tools wie Videotelefonie, Screensharing, Co-Browsing, elektronische Signatur etc.
Capgemeini-Grafik: Vertriebskanäle zur Recherche und für den Abschluss von privaten und gewerblichen Versicherungsprodukten
Aktuell befinden sich viele Branchen im Umbruch und damit einhergehend verändern sich die Kundenbedürfnisse. Wie gestaltet sich dieser Trend in der Versicherungsbranche?
Martin Baumann: 77 Prozent der Entscheidungsträger bei Versicherungen geben an, dass Agenturen und Makler ihr wichtigster Vertriebskanal sind. Damit sind diese Vermittler Dreh- und Angelpunkte der Branche. Gleichzeitig können und müssen Vermittler und Versicherer gemeinsam weitere Schritte unternehmen, um ihre digitale Reichweite zu erhöhen und die Erwartungen der Versicherungsnehmer in Bezug auf Komfort, 24/7-Verfügbarkeit und Reaktionszeit zu erfüllen.
Wie könnten diese Schritte aus Ihrer Sicht konkret aussehen?
Martin Baumann: Die richtige Balance mit einem optimierten Kundenerlebnis ist der Schlüssel zum Erfolg. Nur in einem Vertriebskanal oder einem Kundenkontaktpunkt sehr gut aufgestellt zu sein, werden weder Vertriebler noch die Versicherer zum Erfolg führen. Entscheidend sind die Kombination und die datentechnische Vernetzung aller Kundenkontaktpunkte. Der Einsatz eines modernen Customer Relationship Management Systems ist hierfür unerlässlich. Außerdem gibt es ein hohes Potenzial in der digitalen Unterstützung und Befähigung der Vertriebspartner. Dies umfasst beispielsweise Werkzeuge zur visuellen Darstellung und zum Vergleich von Tarifen, welche im Vertrieb als sehr hilfreich angesehen werden. Solche Maßnahmen werden dazu beitragen, die Kundenbedürfnisse zu erfüllen und damit letztendlich auch den Umsatz zu steigern.
Die technische Seite ist sicherlich das Eine – aber wie verankern Versicherungen das Phygitale in der Praxis?
Martin Baumann: Versicherer brauchen dazu eine umfassende Digitalisierungsstrategie und sollten neue digitale Business-Modelle konzipieren. Hierzu gehört es auch, den bisherigen Organisationsaufbau kritisch zu analysieren und Prozesse sowie Systeme auf veränderte Marktgegebenheiten anzupassen.
Dabei hilft auch ein Blick von außen – mit kundenzentrierten Ansätzen und Expertise in den Bereichen neuer digitaler Produkte, Services und Technologien. Ziel ist es, mit der gesamten Unternehmensstruktur die Verschmelzung der Vertriebskanäle optimal zu unterstützen und den Kunden so ein hochwertiges und zukunftsweisendes Erlebnis zu bieten.
Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Baumann! Das Interview führte Ellen Bocquel mit Martin Baumann, der nationale und internationale Versicherungsunternehmen in der digitalen Transformation berät. (-el / www.bocquel-news.de)
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